l) Eine Drohung
Zuerst das Schlechte: Der Rücken des Umschlags scheint das Wesentliche zusammenzufassen "Acht ungleiche Frauenstimmen erzählen in diesen Geschichten von Momenten, in der Nähe und Entfremdung vibrieren. Wo eine winzige kleine Verschiebung alles entscheidend ist, wo Liebe in Skepsis umschlägt, Befangenheit in Zutrauen. [...]”. Warum dann das Buch noch aufschlagen? Wegen der ersten Geschichte jedenfalls nicht. Denn dort wird die Beschreibung des Umschlags zur Drohung: Wird dem Leser nun in allen weiteren sieben Episoden eine ebenso konstruierte Momentaufnahme zugemutet?
II) Episode 1 „Biwak“
Das Schrecklichste, was einem im Kino passieren kann, ist zu bemerken, dass man einen Film anschaut und so, statt einzutauchen, maximal distanziert wird. Beim Lesen ist es ähnlich und am schlimmsten wird es dem Leser der ersten Episode gehen, sofern er einmal Soziologie studiert, insbesondere wenn er sich mit Erving Goffman befasst hat. Die grundsätzliche Frage seiner Arbeit befasst sich damit, wie leicht die Wahrnehmung und damit die Menschen manipuliert werden können und wie sie selbst ständig versuchen die Wahrnehmung der Anderen zu manipulieren. Eine der schönsten Illustrationen dieses Vorgangs betraf die Frage, wie institutionelle Strukturen Macht oder, positiv betrachtet, Sicherheit und Stabilität erzeugen können und wie allein die bloßen Symbole der unmittelbaren Umgebung es schaffen, Nähe oder Entfremdung zu generieren. Das klassische Beispiel dazu ist eine ärztliche Situation, welche Intimität nimmt, um zu gewährleisten, dass jemand Wildfremdes uns deutlich zu nahekommen darf. Wir erleben im Buch mit der Ich-Erzählerin einen Zahnarztbesuch, bei dem diese soziologische Analyse geradezu prototypisch nachgespielt wird. Die Episode ist voller Momente, wo die eigentlich distanzierende Situation Risse bekommt und verschiedene Momente unpassend Nähe schaffen.
a) Alles ist so wie es sein soll: man starrt auf eine hässliche Decke, zahnärztliche Instrumente klirren, im Mund befindet sich eine Alginatpaste für einen Gebissabdruck und der Geschmack nach Flur darf auch nicht fehlen. Doch die Ärztin durchbricht den Frame und zeigt der Protagonistin während der Behandlung auf dem Handy Zähne aus dem Mesolithikum und so entsteht stockend, aber kontinuierlich, ein seltsam vertrauter Austausch über diesen Fund. Aus ihren Rollen gelöst werden Patientin und Ärztin zu etwas ähnlichem wie Freundinnen.
b) Ebenso lenkt die Ich-Erzählerin das Äußere der persischen Ärztin ab: ihr geschmeidiger Gang, das Schaukeln ihres metronomischen Zopfes und schließlich der Anhänger ihrer Kette, der bei der Behandlung, etwas zu symbolhaft, zu nah an das Gesicht der Erzählerin heranragt. Alle diese Details stehen dem Klischee des weißen Kittels entgegen und stellen die Person hervor, die eigentlich hinter ihrer Rolle verborgen bleiben sollte. Das Schwanken zwischen Vertrautheit und Distanz bekommt in dieser Situation eine ganz andere Wendung, denn während es sonst wünschenswert ist, zwischen zwei Personen Nähe herzustellen, ist es erschütternd, diese Nähe auch zwischen Arzt und Patient zu erlangen. Denn genau dann, wenn der Arzt eine Persönlichkeit erlangt, die hinter seiner Rolle hervordringt, genau dann wird er auch fehlbar und fehlbaren Ärzten liefert man sich nur ungern aus.
c) Da die Episode aber eine fiktive Konstruktion ist, müssen natürlich auch Elemente die Wahrnehmung der Protagonistin stabilisieren, neben den schon erwähnten typischen Begleitumständen eines Zahnarztbesuchs, ist die aufkommende Begeisterung für die exakten Zahnabdrücke, die scheinbar überall im Raum herumliegen, ein wesentlich beruhigender Faktor: Die Zahnärztin versteht ihr Handwerk.
d) Natürlich macht dieses Schwanken der Realität, den Text ein ganzes Stück interessanter. Zum Glück verwendet die Autorin eine weitere Technik, um den Leser mitzureißen. So schweift die Ich-Erzählerin während der Behandlung gedanklich ab. Sie wird in ihre Vergangenheit versetzt und dieser biografische Schnipsel schafft es tatsächlich den Leser mehr an die Protagonistin zu binden, Emotionen zu wecken. Somit haben wir also ein Schwanken im Hier und Jetzt, das mehrfach gedeutet und verstanden werden kann und immer auch verbunden ist mit der Vergangenheit. Fertig ist die kleine Lektion in menschlicher Psychologie und soziologischer Handlungstheorie. Ist das also nicht ein wenig zu viel intellektuelle Redundanz für ein ganzes Buch soziologisch-psychologsicher Theorien oder nur der exakte und messerscharfe Blick auf das Menschsein schlechthin?
III) Episode 3 „Mustang“
Im Grunde könnte man es auch positiver betrachten: Kein schlechtes Rezept, authentische Wahrnehmung der Menschen mit tragischen, melancholischen Episoden zu verbinden, die trotz allem Realismus nicht pathetisch oder theatralisch wirken. Das alles wird so beeindruckend möglich, weil die Autorin es versteht journalistisch genau die schwankenden Gedanken ihrer Protagonistinnen zu beschreiben, ja geradewegs zu sezieren. Besonders gut gelingt ihr das in der dritten Episode, weil sie dort die Spuren ihrer theoretischen und konzeptuellen Erörterungen besser tarnen kann. Wir treffen auf ein Paar und ihren Sohn, die ein Jahr in den USA verbringen. Ihr Mann, ein Professor arbeitet an der Universität, ihr Sohn ist in der Schule und wir fragen uns schnell, warum irrt die Protagonistin voller Ekel und Distanz zu allem amerikanischen Kitsch und aller Biederkeit umher und macht im Grunde nichts? Ist sie einfach nur Hausfrau, eine Französin? Natürlich nicht. Recht spät erfahren wir, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hat und das Jahr USA einen Heilungsprozess in Gang setzen soll, der allein der Spannung des Textes wegen, natürlich nicht recht gelingen kann. Die Distanz zur US-Kultur ist fundamental, aber vorgeschoben, denn der tiefe Schmerz überwiegt alles und macht die Protagonistin instabil und unfähig sich auf ihr neues Leben einzulassen. Ausgerechnet in dem schrecklich unpraktischen und kitschigen Wagen, den ihr Mann für die Zeit in der USA kauft, schafft sie es dann aber doch im Geschwindigkeitsrausch Freiheit zu erlangen und sich dem Land und seiner Kultur anzunähern. Dieser dritte Text ist der längste im ganzen Buch und umfasst mit 68 Seiten mehr als ⅓ des Werks und ragt gegenüber den ersten Beiden auch qualitativ hervor.
Irgendwie kann man nicht anders als zu vermuten, „Mustang“ sollte in einen Roman münden, doch wie viele der Episoden, trug der Stoff nicht weit genug. Zudem sind drei der Texte schon in anderer Form erschienen und all das lässt befürchten, dass es sich bloß um eine Sammlung von Texten handelt, die zusammen endlich die nötige Länge für die Herausgabe eines Buches rechtfertigten. Die Texte haben eben nur eines gemeinsam: sie teilen den Blick von Maylis de Kerangal auf die Welt. Vielleicht verzeihen so viele Kritiker der Autorin diese mangelnde Komposition, denn dieser Blick ist atemberaubend schön. Sie schafft es auf magische Weise und fast unmerklich den Leser in einen Text hineinzuziehen und die beschriebenen Lebenswelten so anschaulich und vielfältig zu beschreiben, dass man gebannt an den Zeilen hängt, obwohl nicht viel passiert und wir nicht einen Thriller oder Fantasyroman mit hohem Unterhaltungswert geboten bekommen.
IV) Episoden 2, 4-7: Bezüge und neue Tiefe
Oder tut man der Autorin damit unrecht? Führt uns der zitierte Klappentext auf die falsche Spur?
Es gibt tatsächlich noch mehr Wiederholungen als man beim ersten Lesen bemerkt, Wiederholungen die verdeutlichen, warum diese Texte zusammengehören, ja gar nicht anders können als zusammen veröffentlicht zu werden!
Immer stolpern wir als Leser mit ungeheurer Geschwindigkeit in eine Lebenssituation hinein, die ebenso schnell zu einer ganzen Lebenswelt transformiert wird. In den Episoden, die kürzer geraten sind, wirkt das manchmal unnötig gehetzt, doch so sehr es anfangs schwerfällt in die Handlung der kleinen Texte zu finden, so sehr bleibt man am Ende der Geschichten darüber verwundert zurück, wie man sich eben noch den beschriebenen Protagonisten so fern fühlen konnte und schließlich glaubt, viel mehr gelesen zu haben als die Zeilen und wenigen Seiten es zulassen können.
Nur für den unaufmerksamen Leser handelt es sich um acht ungleiche Frauenstimmen, handelt es sich nur um Geschichten, die von Nähe und Entfremdung handeln und diesen Prozess herausstellen wollen.
Die große Stärke Maylis de Kerangal ist die unfassbare Magie des Verstehens menschlichen Handelns, deren Geheimnis allein darin verborgen liegt, dass sie mehr oder weniger gut getarnt, die intellektuelle, aktuelle wissenschaftliche Basis menschlichen Handelns verinnerlicht hat und anders ausgedrückt weiß, wie man menschliches Verhalten erklärt und über diese Erklärung zum Verstehen findet. Aber das ist nur das Gerüst für das eigentlich Vibrierenden Thema des Buches: den Tod und welche Spuren derselbe in uns hinterlässt. In jeder Episode erlangt man eine intensivere Bindung zum Text durch eine Emotionalisierung, welche ein schicksalhafter Makel oder - noch häufiger - der Tod eines geliebten Menschens verursacht.
In „Biwak“ erinnert sich die Protagonistin an die Freundin ihrer Mutter, die sie bewunderte, welche aber allein lebt, seit ihr Mann vor vielen Jahren bei einem Hubschrauber-Unfall ums Leben gekommen ist. In „Mustang“ hat die Protagonistin eine Fehlgeburt erlitten. In „Ein leichter Vogel“ treffen wir auf den Ich-Erzähler und seine Tochter Lise, die ihre Frau und Mutter verloren haben und darum ringen, dass der Vater endlich den Anrufbeantworter mit der Stimme der Toten löscht. In „Nevermore“ kommt unerwartet zutage, dass Lenore ein Trauma erlitten hat, das sich mit dem Todesmotiv des gleichnamigen Gedichts von Edgar Ellen Poe mehrfach in Beziehung setzen lässt und in „Ontario“ treffen wir wieder auf eine Mutter, deren kleine Tochter im Ontariosee ertrunken ist.
In „After“ wird die jugendliche Freude, die Gefühle der Nostalgie und die Freiheit der endenden Schulzeit vor dem Studium in den Schatten gestellt durch den Bruder der Ich-Erzählerin, dessen Stottern zum Makel der ganzen Familie geworden ist und aller zu erahnender vergangener Schmerz, die Fehler, Stärken und Eigenheiten der Eltern, wie der Geschwister in einer kleinen fast scheiternden Rede des kleinen Bruders verdichtet werden.
Auch in den anderen zwei Episoden ohne Todesbezug finden sich starke Motive von Verlust und Bedauern. In „Gebirgsbach und Ätherrauschen“ werden wir vordergründig in einen feministischen Gedanken verwickelt, in eine kleine innerliche Diskussion hineingezogen, die uns zur inneren Positionierung zwingt. Tatsächlich aber ist das letztlich nur Vorwand für das Erschrecken darüber, dass man die Nähe zu einer geliebten Person verlieren kann. Die Ich-Erzählerin begreift, dass die gemeinsame Vergangenheit mit jedem Jahr neuer Gegenwart unaufhaltsam kleiner werden kann bis zum dem Zeitpunkt, wo der Kontakt für immer abbrechen könnte.
Schließlich treffen wir in „Ariane“ auf eine alte Frau, die allein in einem verlassenen Weiler lebt und glaubt mit Außerirdischen Kontakt aufgenommen zu haben und vordergründig verwirrt die zunehmende Neigung der Protagonisten, ihr Glauben zu schenken, den Leser. Gleichzeitig aber sind auch hier das Sterben eines Ortes und das Verschwinden einer Vergangenheit ohne Zukunft überdeutlich. Der Sog von tiefer Trauer wird als Begleiter menschlichen Daseins beschrieben, nicht als besonderes Ereignis, sondern als integraler Bestandteil des Menschseins schlechthin. Die Erfahrung des Verlustes hinterlässt Spuren im Habitus (mit Bourdieus Worten), in der Seele und verschwindet nicht, ist aber auch nicht Ausgangspunkt weiterer Tragödien. Die ProtagonistInnen zerbrechen nicht an ihrer Erfahrung: Faye stürzt sich nicht in den Ontariosee, die Protagonisten von „Mustang“ stirbt nicht beim Unfall mit ihrem Auto und ihre Seelen werden nicht wie in Edgar Ellen Poes Gedicht in den Schatten gedrückt; wie in „Nevermore“ fliegt der Rabe stattdessen davon und steht für Freiheit, statt für das von Trauer Erdrücktsein. Schließlich versteckt sich der Bezug zu den Wunden des Lebens im Titel des Buches selbst „Kanus“-als Symbol mit mehreren Ebenen und Bezugspunkten. Als zentralen Schlüssel zur Dechiffrierung steht auch hierbei „Nevermore“ im Mittelpunkt. Die Protagonistin hat sich bereit erklärt, dass von zwei Künstlerinnen ihre Stimme aufgenommen wird. Sie bekommt das Gedicht von Egar Ellen Poe vorgesetzt und verhaspelt sich immer wieder bis sie in einer Art Trance ihre eigene Stimme nicht wiederzuerkennen glaubt. Ihre Stimme werden die beiden Sammlerinnen schließlich „helles Kanu auf dunklen Ozean“ nennen, aber mehr noch: da ist etwas seltsames in der Tonaufnahme „…eine Art Kerbe, eine Spitze kehrte in regelmäßigen Intervallen wieder, wahrnehmbar in den hohen Tönen…“ die Schwestern vermuten, dies sei eine alte Verletzung hörbar geworden durch das Gedicht, welches vom Verlust eines geliebten Menschen handelt. Die Kerbe im dunklen Ozean vom Kanu zurückgelassen treffen wir wieder in „Ontario“. Die Erlebnisse mit der traurigen Faye, die ihrer toten Tochter gedenkt, lösen bei der Ich-Erzählerin Gedanken an sich selber aus, an ihren mittlerweile verstorben Vater. Dieser hatte ein Foto von einem Irokesen auf dem Ontariosee, dass sie noch immer besitzt: „ein Indianer, allein auf dem ruhigen See, er angelt, aufgerichtet, und das Kanu zieht seine Mikrorille durch das glitzernde Wasser…“ Auf einmal sind überall Kanus in den Episoden zu finden die Kerben im Ozean der Seele hinterlassen und immer wieder auch ihre Spuren dem sichtbaren Handeln der Menschen aufdrücken und sei es in den kleinen Nuancen der Stimme.
Das Beste zum Schluss: Wenigen Autoren gelingt es so famos der „Wirklichkeit“ nahe zu kommen, auf ein paar Seiten einen ganzen Roman zu zwingen und so gut zu verdeutlichen, dass jeder Augenblick die grenzenlose Verdichtung aller Vergangenheit ist.
Dabei ist es nahezu lächerlich diese Wirklichkeit einem Geschlecht zuzuschreiben und das Buch zu einer rosacoverisierten weiblichen Kraft zu stilisieren, denn mögen die Erfahrungen unterschiedlich sein, dem Menschsein kann keiner entkommen und alle Versuche das Menschsein in ein Frausein oder Mannsein zu teilen, müssen ins Leere laufen!
Maylis de Kerangal
Erscheinungstermin: 15.05.2023
168 Seiten für 22,00€
978-3-518-43119-1
Suhrkamp Verlag, 1. Auflage
Originaltitel: Canoës (Éditions Gallimard)
*Coverbild zum kostenlosen download bei Suhrkamp.de
https://www.suhrkamp.de/buch/maylis-de-kerangal-kanus-t-9783518431191